Mit zwei Urteilen vom 12.3.2024 (Az. IX R 9/23 und Az. IX R 8/23) hat sich der BFH mit der Auslegung des § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG befasst und entschieden, dass diese Norm veranlagungszeitraumbezogen auszulegen und es daher erforderlich ist, dass der Übertragende (Veräußerer) innerhalb des maßgeblichen Fünfjahreszeitraums nach der für diesen Zeitraum jeweils gültigen Rechtslage wesentlich/maßgeblich beteiligt war.
Im konkreten Streitfall war die Besteuerung eines Gewinns aus der Veräußerung teilweise unentgeltlich erworbener Anteile an einer Kapitalgesellschaft (eines Aktienpakets) nach § 17 EStG umstritten. Die Mutter der Stpfl. war bis Dezember 2000 Eigentümerin eines Aktienpakets mit einer Beteiligung am Kapital der AG von 1,04 %. Mit Vertrag vom 5.12.2000 übertrug die Mutter der Stpfl. die Hälfte des Aktienpakets auf die Stpfl.; als Gegenleistung zahlte die Stpfl. 650 000 DM. Im Dezember 2002 veräußerte die Stpfl. ihre Beteiligung an der AG und erzielte dabei einen Veräußerungserlös von 2 750 000 €. Die FinVerw erfasste bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb für den Veranlagungszeitraum 2002 einen Veräußerungsgewinn i.H.v. 2 750 000 € und berücksichtigte diesen unter Anwendung des Halbeinkünfteverfahrens. Im nachfolgenden Einspruchsverfahren vertrat die FinVerw die Auffassung, dass der Gewinn aus der Veräußerung der Aktien insoweit als nicht steuerbar anzusehen sei, als er auf den Wertzuwachs vor der Verkündung des Steuersenkungsgesetzes, mit dem die Wesentlichkeitsgrenze des § 17 EStG von „mindestens 10 %“ auf „mindestens 1 %“ abgesenkt wurde, und damit auf die Zeit bis zum 26.10.2000 entfalle; der Veräußerungsgewinn gem. § 17 EStG wurde auf rd. 895 T€ festgelegt.
Der BFH hat vorliegend festgestellt, dass die Veräußerung durch die Beschenkte nach § 17 EStG insgesamt nicht steuerbar war, und in seiner Begründung folgende Aspekte herausgestellt:
– Gemäß § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG gelte § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG entsprechend, wenn der Veräußerer den veräußerten Anteil innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Veräußerung unentgeltlich erworben hat und der Rechtsvorgänger innerhalb der letzten fünf Jahre i.S.v. Satz 1 beteiligt war. Dies war im Streitfall nicht gegeben.
– Nach der Rechtsprechung des IX. Senats des BFH sei § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG veranlagungszeitraumbezogen auszulegen (BFH v. 24.1.2012, IX R 8/10, BStBl II 2013, 363, Rz. 28). Mithin sei erforderlich, dass der unentgeltlich Übertragende innerhalb des maßgeblichen Fünfjahreszeitraums nach der für diesen Zeitraum jeweils gültigen Rechtslage wesentlich/maßgeblich beteiligt war.
– Der veranlagungszeitraumbezogene Beteiligungsbegriff bedeute, dass die Beteiligungsgrenze innerhalb des Fünfjahreszeitraums nach § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG veranlagungszeitraumbezogen zu bestimmen ist, d.h., es ist für jeden Veranlagungszeitraum innerhalb des Fünfjahreszeitraums das Merkmal „wesentliche Beteiligung“ nach der im jeweiligen Jahr gültigen Beteiligungsgrenze zu bestimmen (Vertrauensschutz). Diesem Ergebnis stehe – anders als die FinVerw meint – auch der Wortlaut des § 17 Abs. 1 EStG nicht entgegen.
– Soll sich der spätere Veräußerer als Rechtsnachfolger die Besitzzeit seines wesentlich beteiligten Rechtsvorgängers anrechnen lassen, setzt dies voraus, dass diese wesentliche Beteiligung im Zeitpunkt der unentgeltlichen Übertragung bereits bestand. Insbesondere dürfe ein Stpfl., der im Wege der Schenkung eine nicht steuerverhaftete Beteiligung erhielt, nicht durch nachträgliche Absenkungen der Beteiligungsgrenze in die Steuerverhaftung hineinwachsen, obwohl sowohl er als auch der Schenker zum Zeitpunkt der Schenkung nicht über der maßgeblichen Grenze lagen.
– Nach diesen Grundsätzen habe es sich bei der Beteiligung der Mutter bis zur teilentgeltlichen Übertragung mit Vertrag vom 5.12.2000 nicht um eine wesentliche/maßgebliche Beteiligung im Sinne von § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG gehandelt. Erst nach der Übertragung wurde die maßgebliche Beteiligungsgrenze für eine Steuerbarkeit des Veräußerungsgewinns nach § 17 Abs. 1 EStG mit Wirkung ab dem 1.1.2021 auf mindestens 1 % herabgesetzt.
Hinweis:
Der BFH hat seine Entscheidung auf der Basis seiner bisherigen Rechtsprechung – gegen die Auffassung der FinVerw – sehr überzeugend abgeleitet. Besonders zu betonen ist, dass der BFH die Bedeutung der verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes – mit entscheidungserheblicher Auswirkung – betont hat. Wertsteigerungen, die jeweils bis zur Absenkung der gesetzlichen Wesentlichkeitsgrenze entstanden sind und die entweder – bei einer Veräußerung bis zu diesem Zeitpunkt – nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei realisiert worden sind oder – bei einer Veräußerung nach Verkündung des Gesetzes – sowohl zum Zeitpunkt der Verkündung als auch zum Zeitpunkt der Veräußerung nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können, dürfen hiernach nicht der Besteuerung unterliegen. In einschlägigen Praxisfällen sollte geprüft werden, ob ggf. noch eine Herabsetzung des steuerlich relevanten Veräußerungsgewinns erreicht werden kann.